Frühmittelalterliche Gesellschaft
Im Frühmittelalter (um 500 n. Chr. bis um 1050 n. Chr.) lebten die Menschen in Europa in Personenverbänden. Als Bezeichnung für diese Personenverbände ist der Begriff der Sippe (gotisch: „sibja“; ahd. „sippis“; mhd. „sippe“) überliefert, den wir in der heutigen Alltagssprache scherzhaft oder auch abwertend als Bezeichnung für die Gesamtheit der Mitglieder der Familie verwenden. Die persönliche Zugehörigkeit zur Sippe entstand durch Verwandtschaft bzw. das Aufwachsen des Kindes in einer bestimmten Sippe. Das Merkmal der Verwandtschaft bedeutete zugleich, dass man sich wohl gesonnen war und gemeinsam in Frieden zusammenlebte. Diejenigen Personenverbände, die sich durch ihre gemeinsame Kultur und Geschichte sowie auch Sprache verbunden fühlten, bildeten eine große Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft wird in der Forschung als Volk oder Stamm bezeichnet. Im frühmittelalterlichen Europa lebten beispielsweise die Burgunder, Langobarden, Thüringer, Sachsen, Goten, Friesen, Bayern, Jüten und Angeln.
Was war damals Unrecht?
Die Feststellung, ob eine Handlung Unrecht war, oblag als Erstes der eigenen Wahrnehmung des betroffenen Menschen und seiner Sippe. Was in der frühmittelalterlichen Gemeinschaft unter Unrecht verstanden wurde, ist schwer zu fassen. Das „Hineindenken“ in das damalige Verständnis von Recht und Unrecht verführt zu falschen Schlüssen. Was im heutigen Rechtsverständnis evident als Unrecht gilt, ist ein Produkt einer Jahrhunderte währenden Entwicklung. Aufgrund unserer eigenen Sozialisation in der jetzigen Gesellschaft können wir nur schlecht nachvollziehen, welche Wertvorstellungen und Prinzipien die Menschen in der frühmittelalterlichen Gesellschaft hatten. Deshalb können wir nicht wie ein Mensch aus dem Frühmittelalter denken, sondern allenfalls anhand der vorliegenden Erkenntnisse erahnen, was der Mensch damals gefühlt und gedacht haben könnte. Wir wissen aber, dass die Menschen schon immer und auch im Frühmittelalter ein Bedürfnis nach dem Schutz für ihr Leben und das ihrer Familien gehabt haben müssen. Dieser Denkschluss entspricht den Erkenntnissen zum Selbsterhaltungstrieb. Der Begriff „Friede“ umschreibt bereits seit dem Althochdeutschen und in sprachlichen Wandelungen in nahezu allen Sprachen des heutigen Europas einen Zustand von Ruhe und Schutz für Menschen und ist ein sprachliches Zeugnis für eben das Bestreben des Menschen, sich in einer Lebensumgebung aufzuhalten, die sein eigenes Überleben sichert.
Demnach ist alles das Unrecht, was den Frieden stört oder zerstört. Wurde ein freier Mann eines bestimmten Familienverbandes von einem anderen freien Mann getötet oder verletzt so war diese Verletzung ein Bruch des Friedens. Zugleich wurde aber nicht nur der Frieden gebrochen, sondern auch die Ehre des Opfers und seines Personenverbandes beschädigt. Die Ehre ist das Ansehen und die Wertschätzung einer Person, die ihm von einer anderen Person entgegengebracht wird. Bei einem Totschlag oder einer Körperverletzung ist der Mangel an Wertschätzung des Täters für das Opfer offensichtlich, sodass ein harmonisches Zusammenleben in gegenseitiger Anerkennung nicht mehr möglich war. Diesen Zustand drückte Machiavelli später wie folgt aus: „Wer den Frieden stört, der mache sich auf den Krieg gefasst.“
Ausgleich des Unrechts durch Selbstjustiz
Durch das Fehlen einer geregelten und gefestigten Rechtsordnung galt kein einheitliches Verfahren. Wenn einem Menschen ein Unrecht durch einen anderen angetan wurde, so wollte dieser eine schnelle Reaktion. Dieser Wunsch nach schnellstmöglicher Genugtuung führte oft dazu, dass der Geschädigte oder seine Familie den Vorfall selbst richtete, indem Selbsthilfe durch Rache (Blutrache) geübt wurde. Der Lösungsweg für die Herstellung eines gerechten Zustandes wurde folglich in dem persönlichen Streit gesucht. Die Fehde als sich gegenseitiges „Bekriegen“ wurde zwischen den Familien geführt. Dieser Krieg zwischen den Familienverbänden konnte durch gegenseitige Akte der Rache erst dann zum Ende finden, wenn eine Sippe besiegt war oder die Vernunft durch das Aushandeln einer Sühne dem Krieg Einhalt gebot. Anders mag der Umgang mit geschehenem Unrechte innerhalb der Sippe gewesen sein, da die Blutsverwandtschaft als striktes Band einen gegenseitigen feindlichen Racheakt ausschloss. Hier trafen die Konsequenzen für sein unrechtes Handeln den Verursacher von Unrecht allein und die Strafe war, wie in vielen frühen Gesellschaftsformen, oftmals der Ausschluss aus der Sippe.
Die ersten Rechtsaufzeichnungen in den sog. Volksrechten der europäischen Völker des Frühmittelalters sind Nachweise für das Bemühen um ein geordnetes Gerichtsverfahren und eine Wiedergutmachung des Unrechts durch die Zahlung eines Sühnegeldes, auch in Form von geldwerten Gegenständen (Tiere). So sollte die Fehde eingedämmt und zurückgedrängt werden. Doch auch die Sühne bot keinen sicheren Ausweg aus der Fehde, da sie als Mittel „zweiter Klasse“ zur Wiederherstellung des Friedens angesehen wurde und der freie ehrenhafte Mann nicht für eine Buße auf die persönliche Rache verzichten wollte.